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Karl-Theo Stammer – Bäuerliches Leben

Karl-Theo Stammer – Bäuerliches Leben

Karl-Theo Stammer erwandert in den 1970er/1980er Jahren die Berge des Südtiroler Ahrntals, auch das Gadertal rund um Enneberg und Campill. Auf den Aufstiegswegen zu Hütten und Gipfeln fotografiert er – der Künstler mit dem Blick für Besonderes – Landschaft und Menschen. Geboren 1951 kommt Stammer als 14-jähriger aus der westdeutschen Hauptstadt Bonn im Rahmen einer von der Caritas organisierten Ferienfreizeit nach Bruneck im Pustertal. Tirol ist ihm damals ein vager Begriff – Luis Trenker und Andreas Hofer sind Persönlichkeiten, die er mit Südtirol verbindet, er weiß, dass er in Italien ist, aber ohne die politischen Hintergründe und die Geschichte des Landes zu kennen. 1965 bis 1969 kommt er mit der Caritas jeden Sommer nach Bruneck, mietet sich später ein, kehrt bald 60 Jahre lang regelmäßig zurück, in die Stadt Bruneck, nein, in das „Städtchen“, das ihn „gefangen“ hat – bis heute. Auf die Frage nach dem „Warum?“ meint Stammer, „die Andersartigkeit zur Großstadt Bonn mit Beamten und Bürokraten“, das habe ihn fasziniert. Bald wird er Mitglied des Alpenverein Südtirol (AVS), gewinnt Freunde, die mit ihm die 3.000er der Zillertaler Alpen und darüber hinaus besteigen. Die ersten Fotografien 1965 bis 1968 macht er als Dokumentation für seine Eltern: „damit sie wissen, wohin sie mich im Sommer geschickt haben, als eine Art Rechenschaftsbericht“. Seit damals fotografiert er – immer analog und auf Diafilmen, weil diese die Farben besser, authentischer wiedergeben.

Aus der Großstadt Bonn inmitten einer urbanen Region stammend, findet Stammer im Ahrntal und im Gadertal – den bevorzugten Orten seiner Motivsuche – eine fremde Kultur vor, eine unbekannte, faszinierende, zum Teil archaische, die er mit der Kamera dokumentiert. Im Gegensatz zu der häufig ideologisch missbrauchten Heimatfotografie, in der Landschaft und Landleben überhöht und ideologisch verbrämt dargestellt werden, sind Stammers Bilder Spurensuche und Spurensicherung von aussterbenden Berufen, Bräuchen, Tätigkeiten, Lebensformen. Er lichtet Landschaft und Leute intuitiv ab, nicht nach einem vorgeplanten Konzept, nichts wirkt konstruiert: Es sind – vom fotografischen Standpunkt aus – eher „Schnappschüsse“ denn „erarbeitete“ Licht/Arrangement-Fotos. Die Menschen schauen auch nicht in die Kamera, sie posieren nicht – sie werden mitten in ihrem Leben durch die Kamera „ertappt“: bei der Arbeit, beim „Feilschen“ am Viehmarkt, im Gasthof nach der Sonntagsmesse beim Kartenspielen. Dabei sind die Fotografien vielfach „intimer“, inniger, weil Stammer – „der Theo aus Bonn“ – als unbelasteter, nicht voyeuristischer Suchender aus der „Fremde“  ohne kommerziellen Zweck den Menschen emotional so nahe kommt, dass sie ihn quasi in die Familie integrieren und sich ihm „natürlich“ zeigen – beim Beten in der Stube, beim  Schlafen auf der Ofenbank,  beim gemeinsamen Essen und bei der Arbeit. In den Bildern offenbart sich die herzliche Beziehung zwischen dem Fotograf und den Fotografierten. Stammer, der Stadtmensch, bewundert die Landschaft –  nicht das große Panorama, den Sonnenuntergang, sondern den frisch gepflügten Kartoffelacker, die präzise Reihe der Korngebinde, den Speltenzaun. Das sind für ihn Identitätsstifter einer geliebten Region. Die Motive sind nicht unbedingt gezielt gewählt – er fotografiert, was ihn in dem Augenblick berührt, neugierig macht, was ihm vor die Linse kommt.

Stammer selbst sagt: „Mit der Kamera konserviert man Dinge, die sonst irgendwann vergessen werden. Am Anfang sind es oft Nebensächlichkeiten, die ich festhalte. Und plötzlich werden sie zu einem wichtigen Inhalt und bekommen eine Bedeutung. Das heißt aber nicht, dass ich wahllos drauflosklicke. Ich gestalte die Bilder immer aus dem Blickwinkel des künstlerischen Sehens.“ (Pustertaler Zeitung, Nr. 24/2015)

Joseph Zoderer, der zuletzt in Bruneck wohnhafte Südtiroler Literat, schreibt ihm als Widmung in eines seiner Bücher: „Für Theo – dem fotografischen Auge Brunecks“ – besser kann man Stammer nicht charakterisieren.

Die Ausstellung „Bäuerliches Leben“ zeigt emotionale, ganz persönliche Bilder eines „rheinländischen Südtirolers“, der „sein“ Land und seine Leute erlebt und mit „Herzlichkeit und Zuneigung“ porträtiert. Stammer kommt mit seinen Fotos jenen Flavio Faganellos für Aldo Gorfers Dokumentation „Die Erben der Einsamkeit. Reise zu den Bergbauernhöfen Südtirols“ (1973) sehr nahe.

Stammer fotografiert ausschließlich analog auf Dia-Positiv. Sein rund 130.000 Bilder umfassendes Archiv, aufgenommen 1967 bis 2017, hat die Stadt Bruneck erworben, die als Mitglied des Vereins Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst (TAP) Lienz–Bruneck diesem Verein die Co-Nutzung eingeräumt hat („Fotosammlung Karl-Theo Stammer, Stadtgemeinde Bruneck“).

Diese erste virtuelle Ausstellung als Kooperation des TAP und der Stadtgemeinde Bruneck zur Stammer’schen Sammlung orientiert sich an sechs Geraden: „Hoamat“/Besitz an Hof, Wald und Feld als Grundlage des Lebens am Berg; Arbeit am Feld zur Sicherung des Lebensunterhalts und der Landschaftspflege; Unerlässlichkeit von Rast und Ruhe; „Frauen-Sachen“ von Kindern und Kochen bis Garten und Hühner; „Männer-Sachen“ wie Viehmarkt- und Gasthaus-Besuche; sowie „Religiöses“.

 

Der Fotograf

Karl-Theo Stammer, geb. 1951 in Sinzig, Rheinland-Pfalz/Deutschland, Studium der Freien Kunst an der Fachhochschule für Kunst und Design in Köln 1973–1980, mehrfach ausgezeichnet, lebt und arbeitet in Bonn/Deutschland und Bruneck/Südtirol. Seine künstlerische Arbeit kommt in mehreren Disziplinen zum Ausdruck: Linoldruck, Zeichnungen, Malerei und Fotografie.

 

Die Kuratoren

Dr. Richard Piock, geb. 1947 in Meran/Südtirol, Studium der Handelswissenschaften in Wien, 1986 bis 2012, CEO der Durst Phototechnik AG, 2013 bis 2016 Präsident des Verwaltungsrates der Durst-Gruppe, seit 2011 Obmann des Vereins „Tiroler Archiv“.

Dr. Martin Kofler, MA, geb. 1971 in Lienz/Osttirol; Studium der Geschichte in Innsbruck und New Orleans; seit 2011 Leiter des neu geschaffenen Tiroler Archivs für photographische Dokumentation und Kunst (TAP).

(Online seit 16.03.2023)

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