Tirol und die „Ostfront“ im Ersten Weltkrieg. Ein visueller Beitrag zum Überfall Russlands auf die Ukraine 2022
Kriegsausbruch und Trauma in Galizien 1914
Mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli 1914 und den weiteren Kriegserklärungen und Mobilmachungen begann der „Große Krieg“, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Noch bevor mit dem Eintritt Italiens in den Weltkrieg auf Seiten der gegnerischen Entente im Mai 1915 Tirol unmittelbares Kampfgebiet werden sollte, war das Kronland bereits anderweitig vom Waffengang betroffen. Der Hauptkriegsschauplatz für die habsburgischen Truppen sollte der „Osten“ sein: Aufgrund der Auseinandersetzungen an der Ostfront (etwa in Galizien und Wolhynien, heute Polen bzw. Ukraine) zwischen Österreich-Ungarn und dem zaristischen Russland bereits ab Herbst 1914, hat übrigens auch Tirol eine gewisse Beziehung zur Ukraine und der damaligen dortigen Bevölkerung („Ruthenen“/Ukrainer) – wenn auch eine traurige.
Noch im August 1914 zogen die vier zur k.u.k. Armee gehörigen Tiroler Kaiserjägerregimenter, die drei einen Teil der k.k. Landwehr bildenden Landesschützenregimenter (Trient I, Bozen II und Innichen III) und der Tiroler Landsturm (ungemusterte 18- bis 20-Jährige bzw. ausgediente 34- bis 42-Jährige – und damit viele ältere Familienväter!) in den Krieg. Rund 45.000 Mann. Man kämpfte in Galizien gegen Russland, auch gegen das Königreich Serbien, und hatte in kurzer Zeit über 10.000 Gefallene zu beklagen. Ein Trauma! Zwecks Ersatz für die fürchterlichen Verluste mussten 35 Marschbataillone bis Ende 1914 nachgesandt werden – die Habsburger-Monarchie sollte sich von diesen Verlusten militärisch nie mehr erholen: circa 300.000 Tote und Verwundete sowie 100.000 durch die Russen Gefangene von 800.000 Angetretenen im ersten Kriegsmonat.
Von einem vorgegaukelten raschen Kriegsende konnte keine Rede sein. Verwundete, Genesende und Krüppel gehörten alsbald zum Kriegsalltag, genauso die Nachrichten über die Gefallenen und vielfach vor Ort an den Fronten Begrabenen. Russische und serbische Kriegsgefangene wurden als Zwangsarbeiter auch in das Kronland Tirol verbracht.
Von Gorlice–Tarnów bis Brussilow 1915/16
Die Kämpfe in Galizien sollten nach den Desastern im Herbst 1914 unvermindert weitergehen, die Front im Laufe des Krieges sich mehrmals um hunderte Kilometer verschieben. Es gab aber auch Erstarrungen der Frontabschnitte – und einen Etappenraum für den „Alltag“ im Hinterland. Neben intensiven, aber oft begrenzten Kämpfen bestanden längere Ruhepausen und auch diverse Besatzungssysteme. Die unter deutscher militärischer Führung (11. Armee) erfolgreiche Schlacht bei Gorlice–Tarnów im Mai 1915 brachte nicht nur das Zurückwerfen der Russen aus Galizien mit der Befreiung von Przemysl und Lemberg (heute Lwiw in der West-Ukraine), sondern mit der nachfolgenden Offensive einen weiten Vorstoß nach Russisch-Polen; für das Zarenreich bedeutete dies den sogenannten „Großen Rückzug“ der Armee. Die eroberte Stadt Luzk am Fluss Styr (Verwaltungszentrum Wolhyniens, heute West-Ukraine) wurde Sitz des Oberkommandos der k.u.k. 4. Armee unter Erzherzog Joseph Ferdinand – ehe die Stadt im Rahmen der russischen Brussilow-Offensive im Juni 1916 wieder verlorenging. In der Folge stabilisierte sich die Front; am Ende führte die Russische Revolution unter Lenin zum Ende des Zarenreiches und dem Sonderfrieden von Brest-Litowsk im März 1918.
Tod allerorts
Die zwischen Herbst 1914 und Mai 1915 äußerst stark reduzierten Regimenter der Tiroler Kaiserjäger, Landesschützen und des Landsturms wurden ab Juni 1915 aus Galizien abgezogen und zunächst an die Isonzo-Front, dann an die Dolomitenfront gegen Italien verlegt. Wie drastisch die damalige Situation gewesen ist, soll folgendes Beispiel vermitteln: Allein beim Kampf im Wald bei Hujcze am 7. September 1914 wurde das 2. Regiment der Tiroler Kaiserjäger von den Russen fast vollends aufgerieben. Die extreme Gesamtzahl der an der Ostfront gefallenen Tiroler Kaiserjäger: 6.435 Mann von August 1914 bis Sommer 1915. Insgesamt liegt die Zahl der Kriegstoten für das Kronland Tirol (Tirol/Südtirol/Trentino) im Ersten Weltkrieg bei rund 27.000, fast die Hälfte der Tiroler Kaiserjäger und Landesschützen bereits 1914/15 im Kriegseinsatz gegen Russland an der Ostfront.
So wie die Tiroler Kaiserjäger sinnloser Weise starben, so ereilte dieses Schicksal auch Ruthenen (Ukrainer), die an der Dolomitenfront gegen Italien eingesetzt wurden. Einzelne, aus dem damals habsburgischen Galizien (heute West-Ukraine) gebürtige Soldaten wie Hawrylo (Havril) Katarynjak aus Kosov (Kossiw) oder Alex Storaszzuk aus Lemberg (Lwiw) fanden etwa im Waldfriedhof in Bruneck im Südtiroler Pustertal ihre letzte Ruhe. Die rasch anwachsende Zahl an in Lazaretten verstorbenen Soldaten hatte bereits am 4. Juli 1915 zur Einweihung ebendieses neu angelegten Militärfriedhofs am Brunecker Kühbergl geführt. Bis Kriegsende November 1918 sollten es 719 Einzelgräber und 15 Massengräber werden – sogar je nach Konfession getrennt und mit dementsprechenden Glaubenssymbolen versehen, Freund und Feind nebeneinander, ein Spiegelbild der damaligen k.k. Armee und ihrer Gegner. Russische Kriegsgefangene hatten die Betreuung der Gräber und Herstellung der Grabholzkreuze unter österreichischer Aufsicht übernommen.
Die Fotografien von Wilhelm Dronowicz
Die für diese virtuelle Ausstellung erstmals erschlossenen rund 1.500 Aufnahmen des Fotografen Wilhelm Dronowicz in der Sammlung Martin Dobernik im Tiroler Photoarchiv TAP spiegeln die Kriegsschauplätze Galizien sowie Italien wider und decken die Jahre 1915 bis Kriegsende 1918 ab. In den allermeisten Fällen handelt es sich um Stereoaufnahmen, in der Regel sind sowohl die Glasnegative als auch (beschriftete) Abzüge erhalten. Für den Bereich der Ostfront liegt der Fokus der circa 300 Fotografien 1915/16 – im Gegensatz zum Schwerpunkt „Przemysl“ bei den rund 20.000 Aufnahmen Galizien/Wolhynien im Wiener Kriegsarchiv (heute Österreichisches Staatsarchiv) – auf den sehr wechselhaften Kämpfen in Galizien und Wolhynien, heute Teile der Staaten Polen und Ukraine.
Man sieht Schlaglichter auf den Vormarsch im Rahmen der Schlacht bei Gorlice–Tarnów über die Flüsse Dunajec und Wisloka sowie Zerstörungen in Rudnik (nad Sanem). Es geht auch um die Dokumentation des Anlegens von Schützengräben durch die Zivilbevölkerung sowie um die Errichtung von z. T. großen Unterkünften in der Etappe, also im Hinterland der Front („Josefa Farm“, Bythen/Stabychwa, heute Ukraine). Die von beiden Kriegsparteien stark umkämpfte Stadt Luck, heute Luzk/Ukraine wird gleichfalls porträtiert. Die große inhaltliche Bandbreite der speziellen Alltagsfotografien der Ostfront reicht von alten jüdischen Friedhöfen über Einzel- und Gruppenaufnahmen der Einheimischen bis hin zur eigenen Truppe (4. Armee, Sappeur-Kompanie 2/3) und deren Aufgabenbereichen.
Intention der Schau (Ist-Stand online seit: 24. März 2022)
Die Zielrichtung der virtuellen Ausstellung ist, die damalige Tragik der Kriegsverhältnisse näher zu bringen. Die Schau ist ein ansprechender Überblick in Bild und Wort zu einem schwierigen bzw. eher in Vergessenheit geratenen Kapitel der Tiroler/Südtiroler Zeitgeschichte, das auch programmatisch für die österreichische Historie steht. Das Schicksal an der russischen Front 1914-1916 betraf zahllose österreichisch-ungarische Familien direkt – von den einheimischen Zivilisten vor Ort gar nicht zu sprechen.
Der Blick zurück in die Vergangenheit ist wichtig und schärft den Fokus für das Europa von heute & morgen. Er verdeutlicht auch die Tatsache, dass vielfältige Konflikte in der Region Mittel-/Osteuropas nicht wirklich neu sind. Die enorme Kriegskatastrophe der Gegenwart hat tiefsitzende, leider sehr negative Wurzeln. Der Verweis da und dort auf die österreichisch-ungarische Kulturstadt Lemberg ist zu wenig: Lemberg, das heutige Lwiw in der West-Ukraine, ist derzeit überfüllt mit traumatisierten Flüchtlingen und Zielpunkt russischer Raketen … Heute wie damals war das „einfache Volk“ – im konkreten Fall etwa Tiroler und Ruthenen (Ukrainer) – Spielball uneinsichtiger Politik der Allerobersten im Land. Im Vergleich dazu ist die Solidaritätswelle innerhalb Europas in diesen Tagen/Wochen/Monaten eine gänzlich andere Dimension und stärkt das kontinentale Gemeinschaftsgefühl. Die historische Rückschau auf den europäischen Weltkriegsschauplatz verdeutlicht den heute übernotwendigen Zusammenhalt innerhalb Europas für eine gemeinsame Zukunft in Frieden und die Bedeutung der Europäischen Union als Friedensprojekt.
Kurator: Martin Kofler (Leiter Tiroler Photoarchiv TAP)
Weiterführende Literatur (Auswahl)
Historische Erinnerungsliteratur
Jakoncig, Guido, Die Tiroler Kaiserjäger im Weltkrieg. Eine Regimentsgeschichte in Bildern, Innsbruck 1931.
Kaiserschützen, Tiroler-Vorarlberger Landsturm und Standschützen, Wien o.J. [1933].
Tiroler Kaiserjägerbund (Hrsg.), Tiroler Kaiserjäger. Ein Gedenkbuch zur Erinnerung an die 10jährige Wiederkehr der Feuertaufe 1914–1924, Innsbruck o.J. [1924].
Wißhaupt, Ernst, Die Tiroler Kaiserjäger im Weltkriege 1914–1918, 2 Bde., Wien 1935.
Literatur
Bachinger, Bernhard/Dornik, Wolfram (Hg.), Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung Graz – Wien – Klagenfurt, Sonderbd. 14), Innsbruck–Wien–Bozen 2013.
Brandauer, Isabelle, „Der Krieg kennt kein Erbarmen.“ Die Tagebücher des Kaiserschützen Erich Mayr (1913–1920) (Erfahren – Erinnern – Bewahren, Bd. 2), Innsbruck 2013.
Eisterer, Klaus/Steininger, Rolf (Hrsg.), Tirol und der Erste Weltkrieg (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Bd. 12), Innsbruck 1995.
Forcher, Michael, Tirol und der Erste Weltkrieg. Ereignisse, Hintergründe, Schicksale, Innsbruck Wien, 2014.
Ders./Mertelseder, Bernhard, Gesichter der Geschichte. Schicksale aus Tirol 1914–1918, Innsbruck–Wien 2015.
Fritz, Peter/Rapp, Christian (Red.), Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914–1918, Ausstellungskatalog Schallaburg, Schallaburg 2014.
Holzer, Anton, Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg, 2. Auflage, Darmstadt 2007.
Kofler, Martin (Hrsg.), Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914–1918 (TAP-Forschungen, Bd. 2), Innsbruck–Wien 2014.
Mader, Monika (Hrsg.), Hinter den Fronten Galiziens. Feldkaplan Karl Gögele und sein Verwundetenspital. Aufzeichnungen 1914–1915, Bozen 2016.
Dies. (Hrsg.), Raues Leben, großes Sterben. Feldkaplan Karl Gögele und sein Deutschordensspital. Kriegstagebücher 1915–1918, Bozen 2018.
Maderthaner, Wolfgang/Hochedlinger, Michael, Untergang einer Welt. Der große Krieg 1914–1918 in Photographien und Texten, Wien 2013.
Meighörner, Wolfgang/Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft m.b.H. (Hrsg.), Front – Heimat. Tirol im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2015.
Obwegs, Günther, „… er ging an meiner Seite …“. Bruneck und sein Soldatenfriedhof, Bruneck 2005.
Rauchensteiner, Manfried, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien–Köln–Weimar 2013.
Stadtarchiv Bruneck (Hg.), Ewiges Gedenken und bleibende Schuld / Memoria eterna e colpa perenne. 100 Jahre Waldfriedhof Bruneck / 100 anni Cimitero di Guerra di Brunico, Bruneck 2015.
Stadtgemeinde Bruneck (Hg.), Trauma Galizien / Galizia. 100 Jahre Erster Weltkrieg / 100 anni Prima Guerra Mondiale, Bruneck 2014.