Anfänge des Faschismus in Südtirol 1922–1933
Kriegsende & St. Germain 1918/19
1918 bedeutete die zentrale Zäsur in der Geschichte Tirols im 20. Jahrhundert. Die Abtrennung nicht nur des Trentino („Welsch-Tirol“), sondern auch Südtirols bis zum Brenner und Zuteilung an den Kriegsgewinner Italien – basierend auf dem Londoner Geheimvertrag von 1915 – zerschnitt die Jahrhunderte lang gewachsene Großregion. Im internationalen Kontext war dies eine Art „präventive Kompensation“ (Oswald Überegger), um die zeitgleichen italienischen Begehrlichkeiten an der östlichen Adriaküste hintanzuhalten. Inmitten des Zusammenbruchs, des Auseinanderfallens der habsburgischen Donaumonarchie entstand eine kleine, politisch schwache Republik Österreich, die anfänglich mehr ihr Heil in einem Anschluss an Deutschland suchte und die im Westen militärisch besetzt wurde: Die italienischen Truppen marschierten bis Innsbruck und über Sillian bis Tassenbach im Osttirolischen Pustertal vor – und blieben als Besatzung bis zum 10. Oktober 1920. Eben bis zum Inkrafttreten des Vertrags von St. Germain der Siegermächte mit Österreich (unterzeichnet am 10. September 1919), in dem auch die neuen politischen Grenzen fixiert wurden.
Das im Vertrag festgelegte Anschlussverbot an Deutschland verlagerte derartige Ambitionen dann einfach auf die Landesebene – doch auch praktisch 100% „Ja“ in Tirol und Salzburg 1921 blieben realpolitisch belanglos weil für die Siegermächte inakzeptabel. Die „Zerreißung“ Tirols sollte für Österreich die zwei geographisch gar nicht mehr verbundenen Teile Nordtirol und Osttirol bringen – letzteres war als „Bezirk Lienz“ um seine sechs Gemeinden um Innichen und Sexten verkleinert worden. Wo es militärisch für Rom sinnvoll erschien, ging man vom Wasserscheiden-Prinzip Ettore Tolomeis ab, daher wurde etwa die Grenze nicht am Toblacher Feld, sondern vorgeschoben an der Engstelle bei Winnebach/Arnbach fixiert. An das Schicksal Südtirols erinnerte in der Folge der „Landestrauertag“: Jedes Jahr am 10. Oktober, am Jahrestag der definitiven Annexion Südtirols durch Italien (10. Oktober 1920), gedachte man nun in Tirol unter anderem mit patriotischen Feiern der Landsleute südlich des Brenners.
Zerschnittene Bande … und das erste Opfer
„Südtirol“ blieb in den 1920er Jahren (und danach) ein bestimmendes Thema in Politik, Presse und Öffentlichkeit Tirols und prägte das Verhältnis desselben zum Königreich Italien und alsbald zum faschistischen Staat Benito Mussolinis.
Die neuen Grenzen durchschnitten alte Kulturräume wie etwa das Pustertal vollends, was verkehrsgeographisch zu extremen Schwierigkeiten führte – die Pustertalbahn wurde zu einer belanglosen Nebenbahn, die Fahrt von Lienz nach Innsbruck ging wesentlich leichter mit der Tauernbahn über Kärnten und Salzburg. Es gab für die Tiroler keiner Weiterstudieren mehr in der Lehrerbildungsanstalt Bozen oder im Priesterseminar Brixen; Innsbruck wurde für Nord- und Osttirol die Zentrale – mit der politisch klar dominierenden christlich-sozialen Tiroler Volkspartei –, vorher hatte es etwa für den Bezirk Lienz die Zuständigkeiten gegeben: Kreisgericht Bozen, Handelskammer Bozen und Finanzlandesdirektion Brixen. Abseits alles Trennenden – von kirchlichen Zuständigkeiten bis hin zu innerfamiliären Verwandtschaften, die jetzt durch die Grenze stark behindert wurden – ließ man sich aber nicht irreführen. Auch der stete Viehschmuggel über die Grenze ist ein Indiz hierfür.
Während man sich in Tirol in der Erinnerungskultur „nach innen“ wandte, Stichworte Erstellung der „Tiroler Ehrenbücher“ der Gefallenen im Ersten Weltkrieg bzw. Errichtung des Bezirks-Kriegerdenkmals bei der Lienzer Stadtpfarrkirche St. Andrä (mit den Fresken von Albin Egger-Lienz) 1925, gab es in Südtirol die tagtägliche Auseinandersetzung mit dem „Italienischen“ – dies betraf alle Bereiche von Sprache und Schule über Verwaltung bis Wirtschaft. In den ersten Jahren nach Kriegsende existierte noch eine gewisse Hoffnung auf den Erhalt gewisser deutschsprachiger Rechte, auf ein Arrangement; die radikale Änderung kam mit der Machtergreifung Mussolinis Ende Oktober 1922. Nationalismus und Zentralismus sollten fortan bestimmen.
In Südtirol bestand kein eigens „gewachsener“ regionaler Faschismus – dieser musste erst 1921 von Mailand aus quasi „geschaffen“ werden. Am 24. April 1921 – dem Tag der Tiroler Anschluss-Volksabstimmung – kam es zum Überfall der faschistischen „Schwarzhemden“ auf einen Trachtenumzug in Bozen, bei dem der 37-jährige Lehrer Franz Innerhofer aus Marling erschossen und rund 50 Personen zum Teil schwer verletzt wurden; auch hier waren wieder Trentiner Faschisten „mit von der Partie“. Kurz vor dem sog. „Marsch auf Rom“ Ende Oktober – der keiner war, sondern ein später gezielt geschaffener Mythos – gab es einen zweiten Aufmarsch der Faschisten in Bozen, und zwar Anfang Oktober 1922: mit der Besetzung des Rathauses und dem erzwungenen Rücktritt des frei gewählten Gemeinderats unter Bürgermeister Julius Perathoner. Und dieser „Marsch auf Bozen“ war als „Generalprobe“ (Rolf Steininger) für den „Marsch auf Rom“ aus Sicht der Faschisten ein gelungener.
Italianisierung und Ausbreitung des Faschismus / Südtiroler in Rom 1933
Die Faschisten forcierten die vollständige Italianisierung Südtirols mittels des am 15. Juli 1923 verkündeten 32-Punkte-Programms Ettore Tolomeis, von dem in den darauffolgenden Jahren Vieles durchgeführt wurde. Vor Gericht und in der Verwaltung war Italienisch die einzig gültige Sprache, alle Ortsnamen mussten rein italienisch sein, in allen Schulen war das Italienische die einzige Unterrichtssprache. Dies führte zu Protesten und der Organisation der „Katakombenschulen“ (geheimer deutschsprachiger Notschulen) unter Kanonikus Michael Gamper; wenn auf diese Weise auch „nur“ rund 5.000 von etwa 30.000 deutschsprachigen Kindern unterrichtet werden konnten, so war dies doch eine essentielle Resistenz-Aktion zur Erhaltung der deutschen Sprache und Kultur. Es versteht sich weiters von selbst, dass ein Übersetzungsdruck von Familiennamen ins Italienische ebenso auf starke Ablehnung stieß wie das Verbot des Namen Tirol, weshalb anstelle von „Südtirol“ von „Hochetsch“ (Alto Adige) die Rede sein musste.
1923 bis 1926 war Südtirol Teil der neu geschaffenen Provinz Trient; 1926 kreierte man die „Provinz Bozen“, um von Rom aus direkter die Italianisierungsmaßnahmen in die Tat umzusetzen! Die Einführung staatlicher Amtsbürgermeister (Podestà) bedeutete das Ende der Gemeindeautonomie. Der als „Hort des Deutschtums“ betrachtete Bauernbund wurde aufgelöst bzw. politisch umgewandelt. Die neue faschistische Gesetzgebung bedeutete die fortan strenge Kontrolle nicht nur den öffentlichen, sondern auch des privaten Lebens. Andere Parteien und Gewerkschaften wurden aufgelöst, die Presse einer harten Zensur unterworfen – einzig der katholische vormalige „Tyrolia“-, dann „Vogelweider“ und schließlich ab 1936 „Athesia“-Verlag (Lateinisch für „Etsch“) konnte mit den Zeitungen „Dolomiten“ und „Volksbote“ unter Schutz des Vatikan-Konkordats von 1929 weiterbestehen, wenn auch unter stetiger behördlicher Aufsicht. Die Errichtung einer politisch motivierten „Industriezone“ in Bozen mit dem Zuzug tausender italienischer Arbeiter begann bereits 1926/27, nahm dann Mitte der 1930er Jahre so richtig Fahrt auf. 1926 bis 1928 errichtete man genau an jener Stelle in Bozen, an der bereits während des Weltkriegs mit der Errichtung eines Kaiserjäger-Denkmals gestartet worden war, das „Siegesdenkmal“ – als Monument faschistischer Macht und Siegesgewissheit.
In Realität lag der Fokus des Vordringens des Faschismus in Südtirol in den 1920er Jahren aber fast ausschließlich auf den größeren Städten und Dörfern, von einer flächendeckenden „Eroberung der Fremdstämmigen“ bis in die Täler hinein kann nicht gesprochen werden. Der Faschismus in Südtirol blieb ein „Oberflächenphänomen“ (Stefan Lechner). Dies fußte zum Teil auf der inneren Schwäche der regionalen Faschistischen Partei mit ihren Führungskämpfen und Zwistigkeiten. Da die Akzeptanz der Bevölkerung in weiten Kreisen eben ausblieb, setzte man auf die o.g. Maßnahmen der Gewalt, Repression und Willkür – bis hin zu Gefängnis und Verbannung. Als im Oktober 1932 im „Palazzo delle Esposizione“ in Rom die große Ausstellung über die Faschistische Revolution eröffnet wurde, zehn Jahre nach dem „Marsch auf Rom“, was auch in Bozen propagandistisch inszeniert gefeiert wurde, sollten im April 1933 2.500 (italienischsprachige) Südtiroler Faschisten in die Hauptstadt reisen – und sich unter die vier Millionen Besucher einreihen, welche die Schau bis 1934 besichtigten.
Intention der Schau (Ist-Stand online seit: 30.12.2022)
Zielrichtung der virtuellen Ausstellung ist es, die Anfangsphase der Geschichte Südtirols nach der Abtrennung von Österreich/der Angliederung an Italien in Bild und Wort zu dokumentieren. Die radikale Zäsur nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde durch die krasse Italianisierungspolitik der Faschisten unter Benito Mussolini ab 1922 extrem verstärkt. Resistentes Verhalten von Demonstrationen bis „Katakombenschulen“ war die logische Folge. Dem gegenüber steht die Machtausübung der neuen Herrscher, die bis auf die lokale Ebene herabzureichen versuchte – was von der Bevölkerung vor Ort vielfach vollends abgelehnt wurde. Visuell prallen die damaligen Lichtbilder der neuen starken deutschsprachigen Minderheit im obersten Norden Italiens auf die Ereignisfotografie faschistischer Besuche, Sportveranstaltungen und Ausflüge. Dass sich die europäische Großwetterlage mit der Achse Berlin–Rom/Hitler–Mussolini ab 1936 vollends ändern und für Südtirol mit der „Option“ die nächste extreme Zäsur kommen sollte, ist eine andere Geschichte …
Kurator: Martin Kofler (Leiter Tiroler Photoarchiv TAP)
Weiterführende Literatur (Auswahl)
Di Michele, Andrea, Die unvollkommene Italianisierung. Politik und Verwaltung in Südtirol 1918–1943, Innsbruck 2008.
Dotter, Marion/Wedrac, Stefan, Der hohe Preis des Friedens. Die Geschichte der Teilung Tirols 1918–1922, Innsbruck–Wien, 3. Aufl. 2019.
Gardumi, Lorenzo/Vilardi, Anselmo (Hg.), Diktaturen an der Grenze. Trentino - Südtirol - Tirol 1933–1945, Bozen 2022.
Gehler, Michael, Tirol im 20. Jahrhundert. Vom Kronland zur Europaregion, Innsbruck–Wien–Bozen 2008.
Grote, Georg, Die zerrissene Generation. Südtiroler Schicksale im Faschismus und Nationalsozialismus 1922–1942, Bozen 2021.
Kofler, Sabine Viktoria, Adolf Hitler entlarvt! Die Südtirolfrage im öffentlichen Diskurs 1920 bis 1928, Bozen 2023.
Lechner, Stefan, „Die Eroberung der Fremdstämmigen“. Provinzfaschismus in Südtirol 1921–1926, Innsbruck 2005.
Ders., Die Grenzen des Faschismus in Südtirol, in: Geschichte und Region 20 (2011), Heft 1, 50–65.
Parteli, Othmar, Südtirol (1918 bis 1970) (Geschichte des Landes Tirol, Bd. 4/I), Bozen–Innsbruck–Wien 1988.
Peterlini, Hans Karl, 100 Jahre Südtirol. Geschichte eines jungen Landes, Innsbruck–Wien 2012.
Pizzinini, Meinrad (Hrsg.), Zeitgeschichte Tirols, Innsbruck–Wien–Bozen 1990.
Rauch, Günther, Der Marsch auf Bozen. Wie der Fall Südtirol Mussolini und Hitler Lust auf mehr machte, Neumarkt 2022.
Seberich, Rainer, Südtiroler Schulgeschichte. Muttersprachlicher Unterricht unter fremdem Gesetz, Bozen 2000.
Steininger Rolf, Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben einer Minderheit, Innsbruck 1997.
Überegger, Oswald, Im Schatten des Krieges. Geschichte Tirols 1918–1920, Paderborn 2019.